Marie Blachetta: Wir beobachten eine sehr große Informationsnachfrage zu dem inhaltlichen Zusammenhang zwischen CDR und CSR, insbesondere wenn es um CDR und Nachhaltigkeit geht. Was ist denn überhaupt der Unterschied zwischen CDR und CSR? Wie wird das aus der wissenschaftlichen Perspektive gesehen?
Annette Kleinfeld: Es gibt aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive unterschiedliche Ansätze. Die Ersten, die das Thema in die wissenschaftliche Debatte im deutschsprachigen Raum gebracht haben, kamen aus der Wirtschaftsethik, wie auch ich selbst. Aus der Wirtschaftsethik heraus haben wir begonnen, uns mit dem Thema CSR und Nachhaltigkeit zu befassen. Folgerichtig sagen wir, dass die Wurzeln bei CDR und CSR die gleichen sein müssen, nämlich ethische Reflexion und das Konzept der Verantwortung. Wenn man sich dann im Einzelnen die Aktivitäten, die Initiativen und die Standards anschaut, die es im Bereich CSR gibt, wird man sehr schnell feststellen, dass man das Rad nicht grundsätzlich neu erfinden muss. Gerade wenn es um die praktische Umsetzung und Anwendung geht, können viele der Instrumente und Maßnahmen, die sich beim Thema CSR etabliert haben, auch sehr gut im Bereich CDR genutzt werden. Seitens der Praxis wird das aber durchaus anders diskutiert. Dort werden auch Nachteile gesehen, wenn CDR unter dem Thema „Nachhaltigkeit“ subsummiert wird.
Meines Erachtens hängt die Antwort zum Zusammenhang zwischen CDR und CSR vom Verständnis von Nachhaltigkeit und CSR ab. Wenn man den ganzheitlichen Ansatz zugrunde legt, von dem ich überzeugt bin, dass CSR eine verantwortliche und nachhaltige Organisationsführung umfasst, dann muss man das Thema auch ganz oben aufhängen und zum Bestandteil der Organisationsführung machen. Dann können die Handlungsfelder von CDR nicht gesondert behandelt werden. Ethische Positionierung, Prinzipien und Werteorientierung einer Organisation müssen im Kontext der digitalen Transformation nicht zwangsläufig neu oder anders sein. An der einen oder anderen Stelle benötigt man sicherlich konkretere oder spezifische Handlungsfelder. Aber wenn ich sage: „Für uns als Organisation sind Transparenz oder die Menschenwürde wichtig“, dann sind das zentrale Werte, die ich auch bei der Lösung von Handlungsfeldern im Bereich CDR benötige. So gesehen habe ich eine klare Tendenz, CDR als eine Erweiterung von CSR zu sehen.
Jens-Rainer Jänig: Unterscheiden sich nicht die Anforderungen der digitalen Transformation auch hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit, ihrer sehr kurzen Produkt- und Technologien-Lebenszyklen, ihres instantanen – meist auch globalen – Impacts auf Gesellschaft? Laufen wir Gefahr, dass wir da blinde Flecken mittragen und das Besondere in der Digitalisierung nicht erkennen, wenn wir denken, dass wir in der „gewachsenen“ CSR schon die Antworten haben?
Annette Kleinfeld: Meine Werte und meine Prinzipien, die ich für richtig und wichtig halte, kann und möchte ich nicht im gleichen Tempo wechseln, wie technologische Entwicklungen sich vollziehen. Die Praxis hat gezeigt, dass viele dieser ganz alten, schon fast antiken normativen Orientierungen genauso relevant sind, wenn es um die Bewältigung von neuen Entwicklungen geht, wie auch jetzt bei der digitalen Transformation. Warum? Am Ende des Tages geht es um die Frage, welche Verantwortung wir gegenüber einer Gesellschaft haben, die überwiegend aus Menschen besteht. Sämtliche Ethik-Modelle befassen sich daher auch mit Orientierungen für die Menschen. An dieser grundlegenden normativen Orientierung ändert sich aus meiner Sicht nichts, wenn wir uns mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen müssen.
Aber das Tempo, da bin ich bei Ihnen, hat sich dramatisch verändert. Eine Anpassung an solche neueren Entwicklungen unter Beibehaltung bestimmter Werte und Prinzipien gehört für mich genau zur Quintessenz verantwortlichen unternehmerischen Handelns. Es wäre aus meiner Sicht inkonsequent zu sagen: Wenn ich mich mit der Umwelt auseinandersetze, dann nehme ich meine Verantwortung wahr. Wenn ich aber neue Technologien einführe, dann mache ich mir überhaupt keine Gedanken darüber, welche Auswirkungen das für die Gesellschaft oder für die Umwelt hat. Das hat dann aus meiner Sicht nichts mehr mit verantwortlicher Organisationsführung zu tun.
Was man leider auch sehen muss: Bei vielen Unternehmen geht es gar nicht um verantwortliche Organisationsführung, sondern nur um das Management von Issues, also von irgendwelchen Handlungsfeldern. Da wird dann gesagt: „Okay, da kommen nur ein paar neue Handlungsfelder dazu, dazu können wir einfach ein neues Managementsystem etablieren“. Wenn man unternehmerische Verantwortung aber immer schon als ganzheitlichen Ansatz verstanden hat, ist das unlogisch.
Marie Blachetta: Wie sieht ein ganzheitlicher Ansatz für Sie aus?
Annette Kleinfeld: Ich verstehe darunter einen ganzheitlichen Zugang zum Thema unternehmerische Verantwortung. Ab einem bestimmten Reifegrad von CSR geht es genau darum – auch in der Theorie. Die wenigsten Unternehmen verfügen aber bereits über diesen Reifegrad. Stattdessen begreifen sie CSR als eine gesonderte Managementaufgabe, für die man ein eigenes Managementsystem benötigt. In der Praxis dominiert diese Spaltung zwischen ökonomischer Ausrichtung – im schlimmsten Fall die Orientierung an der Maximierung des Shareholder-Value – auf der einen Seite und der Entwicklung einer Nachhaltigkeits- oder CSR-Strategie auf der anderen Seite. Dieses Denken ist spätestens durch die Veröffentlichung der ersten internationalen Norm, nämlich der ISO 26000 im Jahr 2010, ad absurdum geführt worden. Denn darin wird ganz klar vorgegeben: Wenn ihr diese Handlungsfelder und das Management dieser Verantwortungsthemen nicht in eure Organisationsführung integriert habt, werdet ihr niemals zu einem glaubwürdigen Ergebnis kommen. Und ihr werdet unterschiedliche Anforderungen im Unternehmen haben, die im schlimmsten Fall zu Dilemmata auf der operativen Ebene führen. Unternehmen, die bereits einen Paradigmenwechsel vollzogen haben, verstehen das heute auch. Anstelle einer Unternehmensstrategie und einer davon isolierten Nachhaltigkeitsstrategie versuchen sie, zu einer verantwortlichen Unternehmensstrategie zu gelangen. Dann empfiehlt es sich allerdings auch, weniger von CSR oder CDR zu sprechen, sondern nur noch von CR.
Alexander von Stülpnagel: Ich möchte noch einmal die Frage aufgreifen, ob CDR eine Folge von CSR ist. Unserer Beobachtung nach ist CDR eigenständig entstanden. Zwar haben viele Unternehmen mit Digitalisierung zu tun, über die damit einhergehende Verantwortung wurde aber zu wenig nachgedacht. Nach und nach kommt jetzt der Gedanke, dass man auch die Digitalisierung verantwortungsvoll angehen muss. Durch die ähnliche Terminologie landet man dann schnell bei CSR und thematisiert CDR dann eher aus den Aspekten Nachhaltigkeit oder Umwelt heraus. CDR ist also nicht als Folge von CSR entstanden, sondern separat. Jetzt bewegen sich CDR und CSR also aufeinander zu. In unserem CDR-Lab separieren wir aus diesem Grund: Wenn jemand Digitalisierungsverantwortung übernehmen will, ist es gut, dass die Person es überhaupt tut. Wenn die gleiche Person schon CSR macht, ist es vielleicht leichter, in die CDR-Thematik hineinzukommen. Wenn ein Unternehmen aber von Null beginnt, ist es nicht so verkehrt, direkt über die Digitalisierung die Verantwortung zu adressieren.
Jens-Rainer Jänig: Wenn CDR in Unternehmen jetzt nach Haltegriffen sucht, nach etablierten Strukturen und Mustern des Denkens, die bei der Implementierung hilfreich sein können, sind die Tools und Werkzeuge der CSR dann eine Schublade zu tief? Eigentlich geht es doch darum, sich an die Prinzipien verantwortungsvoller Unternehmensgestaltung und -führung zu erinnern. Ich würde sagen: Orientiert euch doch lieber an dem, was wir dort an guten Prinzipien des Denkens entwickelt haben, anstatt zu versuchen, die Instrumente der CSR zu adaptieren.
Wir erleben nämlich in den Gesprächen für das Onlinemagazin „Corporate Digital Responsibility “, dass CDR häufig in die Richtung von CSR greift. Verantwortung ist in vielen Unternehmen in CSR „verorganisiert“ worden. Man hat es „verprozessualisiert“, man hat es in ISO-Normen und in Organisationsformen gegossen. Und man hat sicherlich die Nähe zur Geschäftsführung und zum Top-Management verloren. Ist das ein Grund dafür, dass CSR gerade auch ein bisschen Morgenluft wittert, wieder zu einem Top-Thema zu werden?
Annette Kleinfeld: Ja, das ist eine schöne Schlussfolgerung. Wenn man es positiv formuliert, könnte man sagen: CDR und die Diskussion darüber eröffnen auch eine Chance für die Themen, die man bisher unter dem Oberbegriff CSR diskutiert hat, nach 20 Jahren endlich die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihnen immer schon gebührt hat. Sie gehören als fester Bestandteil in die Unternehmensführung und in die Strategieentwicklung.
Marie Blachetta: Wie es denn die Wahrnehmung im Beratungsalltag? Wie wird es in den Unternehmen gelebt? Gibt es bestimmte Abteilungen, die sich etablieren? Wie sind die Zuständigkeiten? Woran machen Sie fest, wie sich CDR im Vergleich zu CSR oder CR entwickelt?
Bartosz Przybylek: Was den Reifegrad der CSR angeht, gibt es sehr unterschiedliche Unternehmen. Wie Frau Kleinfeld schon sagte, gibt es Einige, die das Thema ein bisschen an die Seite geschoben haben und nur ihren Pflichten nachkommen. Diese Unternehmen schauen auch auf CDR eher aus der rechtlichen Perspektive: Was könnten da vielleicht für Pflichten auf mich zukommen? Es gibt aber auch sehr viele Unternehmen, in denen CSR eine extrem strategische Rolle spielt. Wir haben in den letzten zehn Jahren einen starken Wandel in Richtung strategische Unternehmensleitung und Business Development. In diesem Fall ist CSR ein Element, das auch die Produktentwicklung steuert. Deswegen müssen wir in der Praxis differenzieren.
Viele von den Unternehmen, die CSR strategisch nutzen, haben bereits Tools der CSR wie die Wesentlichkeitsanalyse oder das Berichtswesen für ihre CDR adaptiert, zum Beispiel mit einer CDR-Wesentlichkeitsanalyse. Für sie ist das ein einfacher Einstieg in den Bereich der digitalen Unternehmensverantwortung. Deswegen ist gerade aus der Praxis heraus betrachtet die Unternehmenslandschaft sehr divers. In einigen Unternehmen sind Menschen mit CDR-Themen bereits weit fortgeschritten. Andere wiederum kämpfen gerade um die Aufmerksamkeit innerhalb der Unternehmen für Verantwortungsthemen im digitalen Wandel. Auch in unserem CDR-Lab sind Menschen in der Führungsspitze, die CDR in ihrem Unternehmen strategisch verankern. Wir haben aber auch Scrum-Master, die sagen „Hey, ich möchte mein Produktentwicklungsteam dazu befähigen, dass es die digitalen Produkte, die es gerade entwickelt, auch konstant digital-ethisch reflektieren kann. Wie können wir das angehen?“ Das ist ein Spagat, den wir derzeit in der Praxis, in der CDR oftmals individuell gelöst wird, machen müssen.
Marie Blachetta: Das bringt uns nochmal der zu der Frage, wo Unternehmen überhaupt starten können, um sich mit CDR auseinanderzusetzen. Was sind gute Anfangsschritte? Ist es das individuelle Vorgehen, wie z. B. der Scrum-Master, der es direkt in die Produktentwicklung involviert, oder ist es die strategisch, übergreifende Auseinandersetzung? Ist es vielleicht sogar sowohl Bottom-Up als auch Top-Down? Was kann man aus der CSR-Entwicklung lernen?
Annette Kleinfeld: Bei der Umsetzung von CSR sind Unternehmen mit genau dieser Fragestellung konfrontiert: Wo fange ich an? Welche Schritte sind als erstes zu gehen? An dieser Stelle kommen Modelle und systematische Ansätze ins Spiel, wie sie beispielsweise auf der Grundlage der ISO 26000 entwickelt worden sind. Dabei sind folgende Fragen zu beantworten: In welchen Bereichen haben wir denn überhaupt Verantwortungsthemen? Was erwarten unsere Stakeholder von uns? Was ist unser eigener Anspruch? Aber auch – besonders wichtig aus meiner Sicht – die Frage: Wo beginnt unsere Verantwortung? Und wo endet sie?
Durch das Lieferkettengesetz ist diese letzte Frage sehr stark in den Fokus gerückt. An welcher Stelle ihrer Wertschöpfungskette darf und muss eine Organisation sagen: „Hierfür können wir seriöser Weise keine Verantwortung übernehmen, zumindest nicht in dem Maße, wie wir sie in unserem eigenen Unternehmen oder als Inhaber übernehmen können, weil wir hundertprozentigen Einfluss haben?“
Bartosz Przybylek: Auf die Frage, was erste Schritte sein könnten, würde ich antworten – das ist keine wissenschaftliche Aussage – dass man InitiatorInnen von CDR in Unternehmen braucht. Menschen, die das Thema besonders interessiert und die es hinbekommen, es kontinuierlich im Unternehmen voranzutreiben, zu kommunizieren, andere Menschen mitzunehmen. Sie sind gut vernetzt, haben schon ein bestimmtes Know-how im Themenumfeld und somit Möglichkeiten, das Thema voranzutreiben. Das kann jemand aus der Legal-Abteilung sein, weil die Person sich gerade aus dem Datenschutzthema heraus viel damit beschäftigt hat. Es kann aber auch jemand aus der Produktentwicklung, eine Scrum-Masterin sein, die sich das Thema CDR schnappt. Oder jemand aus der CSR-Abteilung. Weil das so unterschiedlich ist, sind die Erfolgsfaktoren gerade noch sehr persönlich und unternehmens-individuell, was schwer zu skalieren und auf andere Unternehmen zu übertragen ist.
Alexander von Stülpnagel: Ich würde das gerne noch um einen weiteren Aspekt ergänzen: Wir haben in unserer Arbeit im CDR-Lab bisher ausschließlich mit Großunternehmen zu tun, nicht mit dem Mittelstand. Die großen Unternehmen sind verpflichtet, CSR zu machen, per Gesetz. CDR hingegen ist freiwillig. Wir haben also erstmal die Hürde der Frage: „Warum muss ich das machen, es schreibt mir ja keiner vor?“, die wir überwinden müssen. Bisher ist die Motivation vor allem intrinsisch und kommt über die unternehmerische Verantwortung, die wahrgenommen wird. Wie Frau Kleinfeld schon ausgeführt hat, ist CDR als Thema dabei manchmal relativ weit unten angesiedelt, manchmal auch ganz oben – Hauptsache es ist schon eine entsprechende Bereitschaft da.
Wir starten oft mit dem Thema Datenethik. Das ist ein Thema, das aktuell alle Unternehmen vor der Brust haben. Sie wollen datengetriebene Geschäftsmodelle machen, sie wollen mehr aus ihren Daten herausholen. Daran anschließend kommt natürlich schnell das Thema KI und entsprechende Algorithmen, die im Zweifel noch nicht durchblickt werden. Da reden wir überhaupt nicht über CSR, sondern über die digitale Transformation. Die Unternehmen sehen eine Chance und merken gleichzeitig, dass sie mehr machen müssen, als sie bisher bedacht hatten. Genau an dieser Stelle greifen CDR-Grundsätze. Dennoch folgt oft ein Spagat zur Einbindung der CSR-Abteilungen, weil dort kein digitales Verständnis wahrgenommen wird. Natürlich gehört beides zusammen unter dem Oberbegriff „CR“. Nur die Frage ist: Wo fange ich an? Wir haben es bei den Großunternehmen meistens über das eigenständige CDR-Thema geschafft. Im Mittelstand wird sich das wahrscheinlich anders darstellen.
Bartosz Przybylek: Ich sehe auch eine gewisse Parallele zu der Diskussion rund um Chief Digital Officer vor einigen Jahren. Das war ein temporäres Instrument in einer Zeit, in der es gerade sinnvoll war, eine Zeit lang jemanden in so eine Stabstelle zu setzen, bis Digitalisierung ganzheitlich in allen Abteilungen verstanden wurde. Einige Unternehmen scheinen auch CDR als temporären Ansatz zu sehen. Man installiert eine Person oder eine temporäre Abteilung für Verantwortung in den datengetriebenen und neuen KI/Algorithmus-Themen, bis die Verzahnung mit CSR oder auch CR gelungen ist. Später will man es als Verantwortung in den jeweiligen Unterabteilungen auflösen. Das scheint momentan ein hilfreicher Ansatz zu sein.
Marie Blachetta: Jetzt haben wir schon über das Lieferkettengesetz, über ISO-Normen, aber auch über Datenethik und Datenschutz gesprochen. Das sind alles Themen, in denen es gesetzliche oder kodifizierte Ansatzpunkte gibt. Würde es dem Thema CDR auch helfen, den Unternehmen übergreifend strukturierte Ansatzpunkte an die Hand zu geben? Denn wenn wir jetzt hören, dass es noch an der Einzelperson liegt, die Feuer und Flamme sein müssen, wie sieht es dann zukünftig aus mit konkreten, formalisierten Compliance-Standards?
Alexander von Stülpnagel: Da würde ich gerne die Parallele zu CSR ziehen. Denn das war vor 20 Jahren beim Thema CSR nicht anders. Auch dort hat man sich erst mal irgendwelche MitstreiterInnen in den Unternehmen gesucht, wurde dann immer breiter, auch nationaler und sehr früh sogar international, bis CSR tatsächlich sogar zur Norm wurde, einer ISO-Norm. Mir schwebt vor, dass das bei CDR auch passiert. Ob es dann CDR heißt oder ob das dann CSR-Plus oder CR heißt, ist für mich nicht entscheidend. Mir ist wichtig, dass es tatsächlich in ein Regelwerk mündet. Ob das jetzt in zwei oder in fünf Jahren sein wird, weiß ich nicht.
Annette Kleinfeld: Dem würde ich unbedingt beipflichten. Es gibt bereits Diskussionen beim DIN, ob und inwieweit man im Bereich CDR mit Normung und Standardisierung eingreifen muss. Ich sehe das ähnlich: Die Entwicklung, die wir aus dem Bereich CSR kennen, könnte sich hier wiederholen. Auch CSR besteht nicht aus einem homogenen Set an Themen; auch dort haben sich immer wieder neue Handlungsfelder herauskristallisiert. Nachhaltigkeit wurde und wird leider heute immer noch vielfach nur mit Umwelt gleichgesetzt. Daher wurden relativ früh Umweltmanagementsystem-Normen und -Standards auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene entwickelt. Das nächste große Thema war dann die Mitverantwortung für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in weniger entwickelten Ländern. Seit einigen Jahren steht zusätzlich das Thema Menschenrechte auf der Agenda, was durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) nun gesetzlich verankert wurde. Auch Compliance ist kein isoliert zu betrachtendes Thema, sondern ein zentraler Aspekt verantwortlicher Organisationsführung. Zu jedem dieser Themen gibt es einzelne ISO-Normen oder -Standards. Ich glaube, dass das bei CDR auch kommen wird. Die größte Herausforderung insbesondere in großen Unternehmen besteht darin, dass die Menschen, die diese Themen managen und vielleicht sogar Beauftragte dafür sind, miteinander sprechen und sich untereinander abstimmen. Tatsächlich sieht es in der Praxis häufig so aus, dass jeder seinen kleinen funktionalen Verantwortungsbereich hat, den er teilweise gegen Einflüsse und Eingriffe von anderen Abteilungen verteidigen möchte. Das ist natürlich kontraproduktiv für diesen angestrebten ganzheitlichen Ansatz.
Jens-Rainer Jänig: Wer war denn bei der ISO 26000 tatsächlich die treibende Institution oder der Akteurskreis? Wer hat den Druck auf dem System gehalten?
Annette Kleinfeld: Das waren die Verbraucherverbände. Die haben seinerzeit diesen Antrag gestellt mit dem Argument: „Wir haben internationale, immer komplexer werdende Wertschöpfungsketten, aber nicht das eine Rahmenwerk, an dem wir uns orientieren können. Die Verbraucher erwarten aber immer stärker, dass Kunden transparent gemacht wird, wie ein Produkt hergestellt worden ist. An welchen Prinzipien hat man sich dabei orientiert?“. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um Sicherheits- und Qualitätsstandards, sondern mehr und mehr um gesellschaftliche Aspekte.
Jens-Rainer Jänig: Wir danken Ihnen allen für das Gespräch.
Annette Kleinfeld ist Professorin für Wirtschaft & Gesellschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HTWG) Konstanz, Senatsbeauftragte für Ethik der Hochschule und Leiterin des Ressorts „CSR und Nachhaltigkeit“ am Konstanz Institute of Corporate Governance (KICG). Seit 1998 berät die promovierte Wirtschaftsethikerin zudem Organisationen in den Bereichen Unternehmensethik, Integritäts- und Wertemanagement sowie CSR, seit 2004 unter dem Dach ihres eigenen Beratungsunternehmens, der Dr. Kleinfeld CEC – Corporate Excellence Consultancy GmbH & Co. KG. Von 2005 bis 2010 war sie als Expertin für Deutschland ständiges Mitglied der Internationalen Arbeitsgruppe (WG SR) und des späteren Redaktionsteams (IDTF). In diesen Rollen war sie federführend an der Entwicklung und an der Übersetzung der ISO 26000 beteiligt. (Foto: Club of Hamburg)
Bartosz Przybylek begeistert sich für Digitalisierung und unterstützt Unternehmen dabei, sie verantwortungsbewusst und erfolgreich zu gestalten. Dafür gründete er 2019 die whyzer GmbH und ist seit Ende 2020 auch Co-Host des CDR Labs. Um „ethics in action“ umzusetzen, kombiniert er mit seinem interdisziplinären Team Methoden angewandter Ethik mit Tools und Prozessen der Digitalwirtschaft und Strategieberatung. Zuvor studierte Bartosz Przybylek Philosophie, Religionswissenschaft und Wirtschaftspolitik an der WWU Münster und begann dort sich intensiv mit ethischen Herausforderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Nach seinem Studium war er mehrere Jahre als Digitalunternehmer in der Spielwarenbranche und anschließend als Strategieberater tätig. Dabei unterstützte er Konzerne und KMUs in der Digitalisierung. Mit der Zeit wurde ihm zunehmend klar: Ohne Ethik wird die digitale Transformation scheitern.
Alexander von Stülpnagel, Geschäftsführender Gesellschafter der dimension2 economics & philosophy consult GmbH setzt sich mit seinem Beratungsteam seit 2016 für einen vertrauensvollen Umgang mit der Digitalisierung in namhaften Unternehmen ein. Zur weiteren Verbreitung wurde 2019 das CDR-Lab als Veranstaltungsplattform gegründet, das inzwischen in Kooperation mit der Fa.wyzer betrieben wird.