Aufbau einer strukturierten CDR bei der BARMER

Für einen strukturierten Umgang mit dem Thema Corporate Digital Responsibility (CDR) stellt sich die Frage, welche Vorgehensweise sinnvoll ist, um CDR übergreifend im Unternehmen zu verankern. Die BARMER hat CDR seit Anfang 2019 verstärkt unter dem Überbegriff der Digitalen Ethik thematisiert. Die inhaltliche Auseinandersetzung ist dabei nicht immer leicht gewesen, auch vor dem Hintergrund der Branchenbesonderheiten. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BARMER, Jürgen Rothmaier, berichtet im Interview von den Erfahrungen mit dem Thema CDR und ordnet das zugrundeliegende Verständnis von CDR bei der BARMER ein. Die Erläuterung des Vorgehens zeigt auch, dass CDR als Querschnittsthema verschiedener Bereiche bei der BARMER bearbeitet wurde und unterschiedliche Stakeholder-Perspektiven zusammengebracht wurden.

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Was versteht die BARMER unter Corporate Digital Responsibility und warum hat die BARMER sich dazu entschlossen sich im Bereich „Corporate Digital Responsibility“ verstärkt zu engagieren?

Unter Corporate Digital Responsibility versteht die BARMER die Selbstverpflichtung, die Digitalisierung anhand unseres Wertekompasses entschieden voranzutreiben. Ganz konkret sehen wir drei Handlungsfelder: die Digitalisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), des Gesundheitswesens und die gesellschaftlichen Aspekte. Am stärksten gestalten können wir dabei natürlich, wie wir unser Unternehmen digitalisieren. Digitalisierung ist uns dabei nie Selbstzweck. Hier können wir gegenüber unseren Versicherten, als Arbeitgeber und teilweise auch bei Leistungserbringern entscheiden, was wir digitalisieren, wie wir Daten schützen und wie Selbstbestimmung gewährleistet werden kann.
Als zweitgrößte Kasse gestalten wir die Digitalisierung des Gesundheitswesens aktiv mit und wir wollen sie zugleich kritisch begleiten. Zahlreiche Innovationen werfen neue Fragen auf. Ein Beispiel: Kann künstliche Intelligenz in Bälde so treffende Diagnosen liefern, dass ÄrztInnen nicht mehr benötigt werden? Wir sagen: Nein, ÄrztInnen werden sicher nicht obsolet. Aber mit KI kann er noch bessere Ergebnisse erzielen und effizienter arbeiten. Für solche hoch komplexen Fragestellungen braucht es einen klaren Wertekompass.

Wie ist die BARMER dabei vorgegangen? Was waren die Herausforderungen auf dem Weg hin zu den digitalethischen Orientierungsdimensionen?

Die Digitalisierung ist ein Megathema und betrifft alle Bereiche des Gesundheitswesens. Die Initiative ist aus der BARMER heraus gestartet worden, weil die Diskussionen rund um Künstliche Intelligenz, Datenmanagement, Datenschutz, Entwicklung und Kooperation mit neuen digitalen Produkten und weiteren Zukunftsthemen bei der BARMER zugenommen haben. Daher haben wir die verschiedenen Bereiche der BARMER zusammengebracht: Marketing, Versorgung, unsere Digitaleinheit BARMER.i und die IT. Alle Beteiligten haben ihr Know-how eingebracht. Dabei wurde Anwendbarkeit und Voraussetzungen für eine digitale Ethik bei der BARMER genauer betrachtet. Gemeinsam wurden Fragestellungen, Projekte und Produkte gesammelt, bei denen die digitale Ethik in einer gesetzlichen Krankenkasse eine Rolle spielen könnten und sollten. Es wurde zusammengetragen, bei welchen Fragestellungen sich eigentlich Grauzonen ergeben und nach welchen Werten wir uns ausrichten. So bietet die Digitalisierung enorme Chancen aber auch Herausforderungen. Sie kann zum Beispiel Versorgungslücken auf dem Land schließen. Sie kann aber auch neue Grenzlinien ziehen, solange es einen „Digital Divide“ zwischen den digital-affinen NutzerInnen und den bislang eher digital-fernen NutzerInnen gibt. Digitalisierung kann PatientInnen zu mehr Selbstbestimmung führen oder Entscheidung und Kontrolle in die Hände der Technik legen. Sie kann mobilisieren oder manipulieren. Was also können wir als BARMER tun, um die Weichen in die richtige Richtung zu stellen? Wir können den Rahmen beschreiben, innerhalb dessen wir uns bewegen wollen und den wir als handlungsleitend betrachten. Damit beschreiben wir, welche Zukunft für uns wünschenswert ist. Wir können daraus ableiten, welche Produkte wir entwickeln und was notwendig ist, um diese positiv einzusetzen und möglichen Risiken aktiv zu begegnen.
Parallel dazu wurden in Kundenreisen zu diversen Prozessen ethische Fragen eingebaut und zusammen mit KundInnen der BARMER diskutiert. Die Erkenntnisse sind in die Erarbeitung der digitalen Ethik der BARMER eingeflossen. Mit Unterstützung von EthikexpertInnen wurde dann der erste Rahmen gemeinsam entwickelt, diskutiert und die Werte festgelegt, immer im Hinblick auf die Überprüfung der Anwendbarkeit auf die Fragestellungen und Projekte.
Nach Abschluss des digitalen Ethik-Rahmens wurden die nächsten Schritte für die Implementierung und Verwendung für die MitarbeiterInnen der BARMER geplant.
Herausgekommen ist schließlich ein Kanon an Werten, den wir mit der professionellen Begleitung durch Prof. Dr. Stefan Heinemann (Ethik Experte der Universität Essen) entwickelt haben und wir jetzt auf unserer Webseite und in internen Publikationen weiter mit Leben und Beispielen aus der Praxis untermauern.

Was unterscheidet die Anforderung an eine Corporate Digital Responsibility in der Gesundheitsbranche im Vergleich zu anderen Branchen?

In der Gesundheitsbranche sind die Problemstellungen im Vergleich zu anderen Branchen häufig besonders komplex und brisant. Die Digitalisierung umfasst ja ganz unterschiedliche Innovationen, von krankheitsbegleitenden Apps, über Operationsrobotik oder Analysen von Genomdatenbanken bis hin zu 3D-Printing von Prothesen und Organen. Je klinischer die Innovationen, desto geringer ist der Einfluss einzelner Krankenkassen. Dennoch besteht hier zumindest eine unserer Rollen darin, ethische Fragestellungen zu identifizieren und zu thematisieren.
Das größte Projekt für das gesamte Gesundheitswesen ist aktuell der Aufbau der elektronischen Patientenakte (ePA). Die Vorteile sind einfach erklärt: Die ePA sorgt für eine höhere Transparenz. Informierte ÄrztInnen können bessere Entscheidungen treffen und PatientInnen sich stärker selbst managen. Wechselwirkungen bei Medikationen unterschiedlicher Therapeuten können frühzeitig erkannt werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Aber uns treiben eben auch die anderen Themen um. Die klassische Frage zum Datenschutz ist hier regulatorisch eindeutig geklärt. Aber auch Zugang, Usability und Datenspende sind Themen. Wie können auch weniger digital-affine Menschen die Akte nutzen? Wie stellen wir sicher, dass am Ende nicht noch mehr, sondern weniger Bürokratie für die ÄrztInnen möglich wird? Wie können Forschung und medizinischer Fortschritt davon profitieren?

Wie greift die BARMER das Spannungsfeld von Daten- vs. Gesundheitsschutz auf?

NutzerInnen von Social-Media-Plattformen geben mitunter ganz bereitwillig auch sehr persönliche Informationen preis. Bei Gesundheitsdaten hingegen erfassen die meisten Menschen intuitiv die große Schutzbedürftigkeit. Diese Verantwortung übernehmen wir seit jeher. Insofern ist dies kein neues Thema für uns, und in der Regel sind Gesundheitsdaten und Schutzbedürftigkeit sehr gut miteinander in Einklang zu bringen.
Im Zuge der Digitalisierung verändern sich aber die Kundenerwartungen. Zum Beispiel wünschen sich viele, dass wir proaktiv Vorschläge machen, was sie für ihre Gesundheit noch tun können. Als Krankenkassen sind wir hier sicherlich bessere Partner als Technologiekonzerne wie Apple oder Amazon. Dafür benötigen wir aber weitere Daten als die mit bis zu neun Monaten Verzug bei uns eingehenden Abrechnungsdaten der ÄrztInnen. Daher machen wir uns dafür stark, dass Versicherte ihre Gesundheitsdaten an den Stellen mit uns teilen, wo es wirklich erforderlich ist. Beispielsweise könnte eine Schwangere von der BARMER zeitnah oder proaktiv Informationen erwarten, wie wir sie am besten begleiten. Unsere digitalen Angebote wie der Hebammen-Chat „Kinderheldin“ oder „7Mind“ für mehr Entspannung können wir dann individuell passend anbieten, wenn wir mehr über die Versicherte wissen. Bei der Datenweitergabe sind mehrere Dinge elementar. Die Versicherten entscheiden freiwillig, welche Daten sie uns zur Verfügung stellen. Zudem genießt der Datenschutz höchste Priorität.
Zu den geänderten Kundenerwartungen gehört auch, dass die Versicherten noch mehr Transparenz als früher einfordern. Deshalb arbeiten wir gerade intensiv daran, dass die Versicherten nahezu in Echtzeit verfolgen können, wo sich Anträge gerade befinden, welche Prüfungen wir vornehmen oder wie sich eine Auszahlung berechnet. Diese Nachverfolgung, die zum Beispiel beim Paketversand längst Standard ist, etablieren wir als erste gesetzliche Krankenkasse in Deutschland. Unser Verständnis des Werts „transparent & aufklärend“, umfasst aber auch, dass alles im persönlichen Mitgliederbereich stattfindet, der selbstverständlich hohen Datenschutzanforderungen unterliegt.

Inwiefern richten sich die Aktivitäten zu Corporate Digital Responsibility auch an die eigenen MitarbeiterInnen?

Uns ist wichtig, dass Corporate Digital Responsibility im täglichen Denken und Handeln der BARMER ankommen. Nun klingt das Thema Ethik im digitalen Raum zunächst einmal eher abstrakt. Das gilt umso mehr, wenn man digital weniger affin ist. Zudem müssen wir derzeit viele digitale Themen gleichzeitig vermitteln, angefangen von der ePA bis hin zur Verschreibung von digitalen Gesundheitsanwendungen. Vor diesem Hintergrund ist die Vermittlung und Implementierung der Corporate Digital Responsibility durchaus eine Herausforderung, die wir aber gerne und entschieden angehen. Dazu nutzen wir unsere Führungskräfte, E-Learning-Module und unser Multiplikatoren-Netzwerk im Unternehmen. Das sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unter anderem dabei helfen, dass alle unsere digitalen Angebote kennen und beraten können. Das ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Denn der direkte Austausch stärkt das Vertrauen der Beschäftigten in die mancherorts noch mit Skepsis betrachtete Digitalisierung.

Wir danken Ihnen für dieses Interview!

Jürgen Rothmaier ist seit 1. Januar 2015 Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der BARMER.

Marie Blachetta

Seit dem 1. Januar 2020 hat Marie Blachetta die Position der Redaktionsleitung für das neue Online-Magazin zum Thema „Corporate Digital Responsibility“ bei der Initiative D21 inne.